(This page is meant for more advanced learners or native speakers interested in linguistic approaches to German (C1 and higher), therefore the text is in German.)
Die Idee der Valenz eines Verbes ist der Chemie entlehnt. Die Valenz eines Atoms benennt, wieviele Verbindungen ein Atom maximal mit anderen Atomen eingehen kann um ein bestimmtes Element zu bilden.
Die Wertigkeit oder auch Valenz eines Atoms ist die höchste Anzahl einwertiger Atome (ursprünglich Wasserstoff und Chlor), die mit einem Atom eines chemischen Elementes gebunden werden kann.[1] (Wikipedia)
In diesem Sinne ist die Valenz eines Verbes die Anzahl der Ergänzungen, die ein bestimmtes Verb ‘einfordert’, um syntaktisch vollständig zu sein.
Anmerkung: Der Begriff der semantischen Valenz beschreibt die Ergänzung unter dem Aspekt semantischer Sinnhaftigkeit bzw. im Sprachgebrauch üblicher oder wahrscheinlicher Ergänzungen. Sie ist dem Begriff der Kollokation ähnlich und ist durch die potentiell kreative Natur von Sprachgebrauch eingeschränkt. SprachnutzerInnen (z.B. eine Sprachkünstlerin/Poet) können durch ungewöhnliche Wortverbindungen kreative Wirkungen erzielen, die mit ‘normalem’ Sprachgebrauch oder üblicheren Kollokationen spielt. Missachtungen der syntaktischen Valenz eines Verbes dagegen würde als fehlerhafter Sprachgebrauch interpretiert.
Beispiele:
Das Verb SEHEN erfordert ein Subjekt, das sieht und ‘etwas’, das gesehen wird, d.h. es hat zwei Valenzen. Hier ein Beispiel aus dem Valenzwörterbuch der IDS (Leibniz-Institut für Deutsche Sprache):
sehen (Lesart 1)
Strukturbeispiel
jemand/etwas sieht jemanden/etwas
Im Sinne von
jemand/etwas nimmt jemanden/etwas mit den Augen optisch wahr
Satzbauplan
K sub , K akk
K steht für Komplement. D.h. der Satzbauplan des Verbs SEHEN (in der Bedeutung etwas (visuell) wahrnehmen) sieht ein sehendes Subjekt und etwas, das gesehen wird vor. Das Gesehene steht dabei im Kasus ‘Akkusativ’.
SEHEN – Wenn ‘sehen’ nur die Sinnestätigkeit der Wahrnehmung mit den Augen beschreibt, braucht es nur ein Subjekt. Etwas oder jemanden der oder die sieht. Traditionell nennt man ein solches Verb transitiv.
In wie fern kann diese Betrachtungsweise für Deutschlernende hilfreich sein? Eines der großen Schwierigkeiten beim Erlernen deutscher Grammatik – im Unterschied zur englischen – ist die Unterscheidung, ob ein Komplement (Satzobjekt) im Dativ- oder im Akkusativkasus steht und einer entsprechenden Formveränderung abweichend vom Nominativ unterliegt. Die Entscheidung, welche Form ein Nomen nimmt, lässt sich nicht ‘logisch’ erschließen; d.h. die Frage: WARUM diese Form und nicht die andere lässt sich nicht beantworten. Für das Erlernen des Deutschen bedeutet dies ein mehr an ‘Auswendiglernen’ als das beispielsweise beim Englischen der Fall ist, das weit weniger Flexionen hat.
Nach Präpositionen, beispielsweise, steht ein Nomen immer in einem der drei verschiedenen Kasus (Akkusativ, Dativ, Genitiv). Nach MIT, z.B., folgt ein Nomen im Dativ, nach OHNE nimmt es Akkusativform, eine Begründbarkeit ist nicht erkennbar:
Ich fahre MIT dir.
Ich fahre OHNE dich.
Beobachtungen können zu erkennbaren Regelmäßigkeiten* führen, aber wie man im Englischen sehen kann, funktioniert eine Sprache auch wunderbar ohne diese verschiedenen Flexionen.
Die Unterscheidung der Kasus ist eine recht abstrakte Angelegenheit, die sich nicht vom bloßen Hinschauen erschließt. (Granzow-Emden, M., Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten, Tübingen, 2019, 448)
und
(…) eine im strengen Sinne logische Erklärung, warum das Deutsche diese Formen ‘will’, gibt es nicht (ebenda, 449)
Beim Lernen helfen kann hier eine lexikalisch-grammatische Betrachtung des jeweiligen Verbs und seiner Valenzen und eine Toleranz dafür, dass sich nicht alles sinnhaft erklären lässt. (“Es ist eben so.”)
Anmerkung: Auch der lexikalische Ansatz (Lexical Approach) empfiehlt Lernenden, vom Wort und seinen Ergänzungen auszugehen und die Sprachkompetenz schrittweise zu entwickeln – wie eine Häuserwand, die man Stein für Stein aufbaut. Teile alltäglichen Sprachgebrauchs bestehen aus sich wiederholenden Phrasen und festen Kollokationen (chunks). Das Auswendiglernen abstrakter, satzgrammatischer (und oft inadequater) Regeln sind kognitiv eher hinderlich. Hier ist eine Anlehnung an die Prozesse kindlicher Sprachentwicklung vermutlich sinnvoller (und stressfreier).
Beobachtungen zum Dativ- und Akkusativkasus im Deutschen
Ob eine Nominalphrase im Dativ- oder Akkusativ steht, wird vom Verb bestimmt. Wenn ein Verb drei Valenzen hat, d.h.zwei Objekte, dann steht eins davon im Akkusativ und eins im Dativ.
Beispiel:
GEBEN
Ich gebe dir (DATIV) etwas (AKKUSATIV).
Ich gebe jemandem Geld.
Ich gebe der Verkäuferin das Geld.
*Weitere Regelmäßigkeiten
- Nach manchen Präposition steht das Objekt im Dativ, nach manchen im Akkusativ. Welche Präpositionen nehmen welche Form? Wieviele Präpositionen gibt es im Deutschen? (Lerne Präpositionen immer im Kontext ihres Gebrauchs; gilt für alle Wörter, aber besonders für Präpositionen)
| Wir laufen | um den See. |
| Wir gehen | mit dem Hund spazieren |
| Das Fest findet | auf dem Marktplatz statt |
| Sie fahren | über die Brücke |
| Der Tunnel führt | unter eine Brücke |
| Der Tisch steht | neben dem Stuhl |
| Der Hund versteckt sich | hinter dem Baum |
| Sie steht | zwischen den Stühlen |
| Der Supermarkt ist | zwischen dem Bahnhof und dem Kaufhaus |
| Der Sportplatz ist | am (an dem) Ende des Dorfes |
| Der Ball rollt | unter das Auto |
| Das Auto steht | vor der Laterne |
| Der Film kommt | nach den Nachrichten |
Manchen Präpositionen können sowohl Akkusativ als auch Dativ folgen. Man nennt sie Wechselpräpositionen. Sie zu betrachten kann interessant sein, da mit unterschiedlichem Kasus auch ein Bedeutungsunterschied einhergeht.
Beispiele (findet sie alleine)
- Es gibt Verben, deren erste Ergänzung (ergänzendes Objekt) immer im Dativ steht:
jemandem vertrauen
jemandem helfen
jemandem glauben
jemandem zustimmen
jemandem drohen
jemandem gratulieren
jemandem schaden
jemandem ähneln
jemandem einfallen
Weitere Beispiele – zu welche der oben beschriebenen Beispiele gehören sie?
Etwas tut jemandem gut. (guttun – drei Valenzen: Ksub, Kdat, Kakk)
Etwas nützt jemandem. (nützen – zwei Valenzen: Ksub, Kdat)
Mir ist etwas eingefallen.
Mir fällt nichts ein.
Sie möchten niemandem schaden.
Wir gehen nachher der Kollegin gratulieren.
Er hat ihm gedroht (vergleiche: Er hat ihn bedroht)
Ich glaube dir nicht.
Sie vertraut ihnen.
Sie stimmen dem neuen Gesetz zu.
Er schuldet dem Mann Geld.
Der Hund läuft dem Ball nach (nachlaufen)
mit jemandem sprechen
Ich spreche mit dir (*mit dich)
mit etwas fahren
Ich fahre mit der Bahn nach Berlin.
sich etwas kaufen
Ich kaufe mir ein neues Fahrrad
Ich kaufe dir ein neues Fahrrad
Ich kaufe uns…
| Ich | kaufe | mir | einen Fußball (der) |
| dir | ein Fahrrad (das) | ||
| uns | ein Auto (das) | ||
| ihm | ein Haus (das) | ||
| euch | die Tickets | ||
| ihr | die Tasche | ||
| mir | die Schuhe | ||
Eine spannende Torte: Schlaglichter aus der grammis-Werkstatt